Die Bedeutung der Rollen für die Kinder
Die Gefahr einer solchen Rollenbeschreibung besteht darin, die Kinder zu pathologisieren und die Rollencharakteristika mit ihrer Person gleichzusetzen. Laut Theresa Ehrenfried (et al. 2001: 29) sind das, was die Kinder zeigen zunächst typische Interaktionsfolgen und Antworten auf das erlebte Geschehen in der Familie. Die beschriebenen Rollen bilden im Wesentlichen bipolare Dimensionen: Über- bzw. Unterverantwortlichkeit, Aufmerksamkeitsgewinnung bzw. Aufmerksamkeitsvermeidung. „Allen Rollen gemeinsam ist ein hohes Maß an Unehrlichkeit, Perfektionismus, Verleugnung, Kontrollverhalten und Selbstbezogenheit." (Arenz-Greiving 2004: 13)
Sharon Wegscheider (1988: 92) betont, dass es in allen Familien in bestimmten Stresssituationen zu entsprechenden Rollenverhalten kommt. Allerdings sind die Rollen in alkoholkranken Familien sehr viel starrer, werden mit einem höheren Maß an Zwanghaftigkeit und Intensität gelebt und können nicht wieder abgelegt werden, da die Stresssituation „Alkoholismus" anhält. An jede Rolle sind bestimmte Erwartungen, Forderungen und Gefühle geknüpft. Mit fortschreitendem Alkoholismus werden die Verhaltensweisen immer unnachgiebiger, einige Merkmale der jeweiligen Rollen können im Laufe der Jahre zum festen Bestandteil der Persönlichkeit der Kinder werden und sie ein Leben lang begleiten. Da diese Kinder meist keine anderen Verhaltensmöglichkeiten erlernt haben, gelingt es ihnen oft nicht bis ins Erwachsenenalter diese Rollen ohne fremde Hilfe abzulegen. Die Kinder können sich leichter von ihrer Rollenbindung lösen, wenn die Suchtentwicklung in der Familie noch nicht weit fortgeschritten ist.
Der Blick auf die Defizite und Störungen versperrt oft die Sicht auf diejenigen Bereiche, in denen diese Kinder und Jugendlichen erfolgreich sind und wo ihre Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen liegen. Die Kinder erfahren durch ihr rollentypisches Verhalten nicht nur Nachteile. Es werden auch Kompetenzen erlernt, welche angemessen eingesetzt, im späteren Leben zu einem Fundus von Möglichkeiten werden können.
(vgl. Rennert 1993: 34; 1990: 77; Arenz-Greiving 2004: 13)
Die Bedeutung der Rolle für die Helden
Die Helden schützten sich vor Gefühlen wie Angst und Hilflosigkeit durch aktives Handeln und lernen frühzeitig, dass es das Beste, ist sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen. Diese Kinder wirken sehr diszipliniert, überverantwortlich und zu reif für ihr Alter. Sie sind nach außen hin sehr erfolgreich, „funktionieren" übermäßig gut und versuchen das Bild zu vermitteln, dass sie mit allen Problemen selbst fertig werden können. Der Preis ist ein nicht kindgemäßes Aufwachsen. Hinter der Rolle des Helden steht die Annahme, dass die elterliche Alkoholabhängigkeit durch erfolgreiches und überverantwortliches Verhalten kompensiert werden muss. Doch so sehr sich die Helden auch anstrengen, sind sie nicht in der Lage, den Mangel an Selbstwert auszugleichen, an dem die Familie leidet. Erfüllen die Helden die selbstgesetzten Standards nicht, alles richtig und perfekt machen zu müssen, entwickeln sie Ängste, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Die Kinder leiden an Überforderung und an den unklaren Beziehungen in der Familie. Trotz der positiven Aufmerksamkeit, die sie erhalten, fühlen sie sich einsam. Sie haben Schwierigkeiten, freundschaftliche Beziehungen einzugehen, da sie nie gelernt haben, sich anderen anzuvertrauen. Beeinträchtigungen der Helden-Kinder sind besonders im emotionalen Bereich zu verzeichnen. Sie sehen im Leben nur Pflichten und sind so oftmals in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, Spaß zu haben, zu spielen und sich zu entspannen. So überverantwortlich sie sich für die Belange anderer Menschen einsetzten, so unterverantwortlich gehen sie mit sich selbst um, da sie nie gelernt haben für sich selbst zu sorgen. Später streben die erwachsenen Helden meist einen helfenden, sozialen Beruf an, da ihnen diese Rolle vertraut ist. Sie „... entwickeln eine starre und zwanghafte Leistungshaltung und später typische Tendenzen, die im psychosozialen Feld als Helfersyndrom beschreiben werden." (Ehrenfried et al. 2001: 30). Die meisten Lebenssituationen gehen sie an, indem sie versuchen die Organisation und Kontrolle zu übernehmen. Sie benötigen den äußeren Erfolg um sich wertvoll zu fühlen, können sehr schlecht Verantwortung abgeben und begeben sich in die Gefahr sich ständig zu überfordern. Die Folgen sind stressbedingte körperliche und psychosomatische Erkrankungen, wie Allergien, Magen-Darm-Beschwerden, Migräne usw. . Vor allem junge Frauen sind gefährdet, Essstörungen zu entwickeln. Da die Helden-Rolle am stärksten vom Konzept der Co-Abhängigkeit geprägt ist, neigen die erwachsenen Kinder eher dazu, einen suchtkranken Menschen als Partner zu wählen und geraten als Co-Abhängige in dieselben Beziehungsmuster wie ihre Eltern.
Die Stärken dieser Rolle liegen in der Übernahme von Verantwortung, in der Hilfsbereitschaft und Verlässlichkeit sowie in der Fähigkeit, Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Helden haben eine besondere Gabe sich in Situationen anderer Menschen einfühlen zu können. (vgl. Rennert 1990: 71, 1993: 30 ff; Wegscheider 1988: 113 ff; Ehrenfried et al. 2001: 30 ff)
Die Bedeutung der Rolle für die schwarzen Schafe
Laut Sharon Wegscheider (1988: 129) zahlt kein anderes Familienmitglied einen so hohen persönlichen Tribut wie das schwarze Schaf. Aufgrund ihrer negativen ausagierenden Verhaltensweisen, gelten sie als Verursacher aller familiären Probleme. Ihnen wird die Schuld am Trinken des abhängigen Elternteiles gegeben. In ihrer Grunderfahrung liegt das Gefühl böse und ungeliebt zu sein. Da sie die Familie in Schwierigkeiten bringen, fühlen sie sich selbst als Versager. Ihr Selbstwertgefühl ist sehr gering, sie fühlen sich schuldig, verlassen und zu tiefst verletzt. Diese Kinder sind auf der Suche nach Liebe und Anerkennung, erhalten jedoch in der Familie wenig Zuneigung und Verständnis. Daher suchen sich die schwarzen Schafe soziale Anerkennung in einer Gruppe von Gleichaltrigen. Oftmals handelt es sich hierbei um oberflächliche Freundschaften. In den Peergroups müssen sie sich behaupten, um Bestätigung zu erlangen, häufig führt dies zu delinquentem Verhalten und Drogenkonsum.
„Unter der aggressiven, feindseligen und abweisenden Fassade des Sündenbocks sind vor allem Schmerz, Einsamkeit und das Gefühl zurückgewiesen zu werden, verborgen." (Rennert 1990: 73)
Das vorherrschende Gefühl der schwarzen Schafe ist eine immense Wut. Der Preis den die Sündenböcke zahlen ist ein selbstzerstörerisches Verhalten. Die erwachsenen Kinder sind besonders gefährdet sucht-mittelabhängig zu werden. Der Alkohol- und Drogenkonsum ermöglicht ihnen den Schmerz zu betäuben und gleichzeitig das eigene Selbstbild zu verbessern.
Ihre Fähigkeiten unter Belastung arbeiten zu können, ihr Mut, ihre Risikobereitschaft sowie ihre Durchsetzungsstärke und Kritikfähigkeit kann positiv genutzt werden.
(vgl. Bertling 1993: 72; Rennert 1990: 72; Wegscheider 1988: 125 ff)
Die Bedeutung der Rolle für die stillen Kinder
Da niemand in der Familie irgendetwas von den stillen Kindern erwartet, außer weiterhin unauffällig zu bleiben, halten sie sich selbst für unbedeutend und minderwertig. Die vorherrschenden Gefühle dieser Kinder sind Einsamkeit, Hilflosigkeit, Traurigkeitsowie Bedeutungs- und Wertlosigkeit. Ihr Selbstwertgefühl ist extrem gering. Sharon Wegscheider beschreibt dies passend: „Es hat nie gelernt, wirklich lebendig zu sein." (Wegscheider 1988: 138)
Krankheiten sind oftmals die einzige Möglichkeit ein wenig elterliche Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten. So fallen sie besonders durch Bettnässen, Allergien und Asthma auf. Sie neigen dazu, die innere emotionale Leere mit Essen und später mit Drogen zu kompensieren. Später können sich aus diesem Verhalten Essstörungen, wie z. B. Anorexie, Bulimie oder eine Suchtmittelabhängigkeit entwickeln.
Die stillen Kinder zeigen wenig Spontaneität und Lebensfreude, häufig kommt es zu einem depressiven Rückzug. Die deutlichsten Auswirkungen dieses Rollenmusters zeigen sich im Sozialverhalten. Aufgrund ihrer Zurückgezogenheit, fehlt ihnen die Möglichkeit, mit anderen Kinder und Jugendlichen in Kontakt zu treten und Freundschaften aufzubauen. Traumwelten und Phantasie ersetzten ihnen was die Realität nicht bieten kann. Da die stillen Kinder kaum soziale Fähigkeiten entwickeln konnten, fällt es ihnen im Erwachsenenalter besonders schwer, Beziehungen einzugehen und Nähe und Intimität zuzulassen. Sie haben große Schwierigkeiten, eine eigene Identität zu entwickeln, Gefühle auszudrücken und Konflikte zu bewältigen.
Die Stärken dieser Kinder liegen im kreativen, phantasievollen und erfinderischen Bereich. Häufig entwickeln sie eine große Begeisterung und Ausdauer für bestimmte Hobbys.
(vgl. Arenz-Greiving 2004; Wegscheider 1988: 141 ff; Rennert 1990: 74)
Die Bedeutung der Rolle für die Clowns
Hinter ihrer fröhlichen Fassade entwickeln diese Kinder Gefühle von Angst und Hilflosigkeit. Sie spüren, dass etwas in der Familie nicht stimmt, können das Problem aber nicht benennen, da die Familie die Suchtproblematik vor ihnen verbirgt. Die Maskottchen lernen, dass sie ihre wahren Gefühle, Ängste und Bedürfnisse nicht zum Ausdruck bringen dürfen. Um die eigenen inneren Spannungen abzubauen spielen sie den Clown und Kasper. Die Folge der Ablenkung von den eigenen Gefühlen ist, zeigt sich darin, dass sich die Kinder innerlich gespalten fühlen. Sie leiden unter Verwirrung, Bedeutungslosigkeit, Schuldgefühlen und Einsamkeit. Im sozialen Bereich zeichnen sich die Maskottchen dadurch aus, dass sie ihre Umwelt manipuliert. Sie entwickeln verschiedene Taktiken, um eine Situation zu beherrschen und die gewünschte Reaktion herauszufordern. Die Clowns haben gute, wenn auch oberflächliche Kontakte, zu Familie und zu Freunden. Auch in der Schule setzt sich ihr Verhalten fort. Sie werden zu Klassenkaspern, die ihren Kummer hinter ihren Späßen verstecken. Trotz ihrer Beliebtheit erfahren die Maskottchen keine echte Anerkennung. Sie werden von ihrer Umwelt nicht ernstgenommen, wirken emotional gestört und unreif. Diese Kinder haben nicht gelernt ihre Gefühle zu äußern oder aktiv mit Belastungen umzugehen. Ihre Problem- und Konfliktbewältigung ist somit sehr eingeschränkt.
Aufgrund der Hyperempfindlichkeit für Stress sind diese Kinder besonders anfällig für psychische Störungen. Wie Ingrid Arenz-Greiving (2004: 13) beschreibt, sind die Maskottchen sehr sensibel für innerfamiliäre Spannungen, haben ein ausgeprägtes Harmonie- und Annerkennungsbedürfnis und fallen häufig durch Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität auf. Im Erwachsenenalter neigen die Maskottchen, dazu Angstgefühle und Stress mit Drogen, Alkohol und Beruhigungstabletten zu kompensieren. Die Angstgefühle können sich im Erwachsenenalter zu Phobien entwickeln.Die Stärken der Clowns ist die Fähigkeit Menschen zu unterhalten und zu begeistern. Sie sind humorvoll, geistreich und hilfsbereit.
(vgl. Rennert 1990: 75; Wegscheider 1988: 147 ff)
- Details
- Erstellt am 01.02.2005
- Geschrieben von Alexandra May