Präventive Maßnahmen vor einer Krisenentwicklung
Am stärksten präventiv wirkt sich natürlich wie bei allen Menschen eine sichere Bindung aus, die bereits im Kindesalter zwischen den Eltern und dem Kind mit Autismus aufgebaut wird. Durch ein stabiles Urvertrauen kann diese am ehesten eine möglichst stabile und konstruktive emotionale Reifung und Entwicklung im Kind mit Autismus ermöglichen. Wenn auch mit Unterstützung, befähigt eine vertrauensvolle emotionale und kontinuierliche Beziehung einen Menschen mit Autismus dazu, in schwierigen Situationen Lösungen eher zu finden beziehungsweise aus dem sozialen Umfeld anzunehmen und so vor einer krisenhaften Zuspitzung effektiver zu bewahren. (vgl. Senckel/Pohlmann (2008), S. 15ff) Ein Angstpegel vor dem Unbekannten kann reduziert werden und Veränderungen kann mit mehr Offenheit begegnet werden.
Besteht eine solche Bindung nicht von Geburt an oder wurde im Laufe des Lebens massiv gestört, liegt es beim professionellen Begleiter als primäre Bezugsperson, bei der Nachreifung einer solchen sicheren Bindung zu helfen. Mit sensibler Achtsamkeit und Akzeptanz der individuellen emotionalen Befindlichkeit der Person mit Autismus und ohne moralische Wertung lässt sich die Begleitperson auf einen respektvollen und ernstnehmenden Umgang ein. Er orientiert sich rücksichtsvoll an den Bedürfnissen und Interessen seines Gegenübers. Mit fachlich fundierten Kenntnissen über Besonderheiten des Verhaltens bei Autismus, der professionellen Beobachtungsfähigkeit und dem Reflexionsvermögen können Hinweise und Signale im Verhalten und im gegenseitigen Umgang gedeutet sowie ein Zugang zur Person und ein Kommunikationsweg erschlossen werden. (vgl. ebd.)
Ein klares und strukturiertes Erziehungsverhalten gibt Sicherheit, wenn es sich durch Konsequenz, Deutlichkeit und Kontinuität auszeichnet. Bezogen auf die Ansprache sind kurze und klare Handlungsanweisungen sinnvoll. Eine möglichst ausdrucksvolle Sprache und mit betonten Schlüsselwörtern und direktem Augenkontakt zeigen sich als wirkungsvoll. Das erleichtert der Person mit Autismus die Aufnahme des Gesagten. Kleine und einfache Handlungsschritte mit konsequentem und überschaubarem Verhalten tragen in dazu bei, Sicherheit, Verständnis und Vorhersehbarkeit zu vermitteln. (vgl. Eckert/ Stieler (2010), S. 14ff)
Nicht nur mit und für den Betroffenen selbst müssen entsprechende Interventions- und Handlungsstrategien für alle Lebensbereiche gesucht und erschlossen werden. Auch die engen Bezugspersonen und Familienmitglieder werden in den Prozess miteinbezogen. Das Erkennen und Herstellen von Struktur und Übersichtlichkeit sowie die Anwendung von alltagspraktischen Selbsthilfe-Strategien kann auch für Angehörige einen wertvollen Lernprozess darstellen. Die Unterstützung und Anleitung von Professionellen muss also nicht auf besonders schwierige Situationen beschränkt bleiben. Beispielsweise werden absehbare vorübergehende und langfristige Veränderungen wie Reisen, Umzug oder Schulwechsel im Leben eines Menschen mit Autismus in Zusammenarbeit mit den engen Bezugspersonen und mit Unterstützung durch professionelle Helfer vorbereitet und geplant. (vgl. Albertowsi (2009), S. 465ff)
In einer Arbeit von Andreas Eckert und Jessica Stieler[1], die ausgewählte Autobiografien von Menschen mit Autismus nach selbststabilisierenden und präventiven Kategorien analysiert haben, sind Merkmale zusammengetragen worden, zur Vermeidung und Verhütung von krisenhaften Zuspitzungen. Die wichtigsten sollen hier im Folgenden dargestellt werden. Die Ratschläge von Menschen mit Autismus für ebenjene werden vermutlich weitaus effektiver sein, als ausschließlich jene Ratschläge von nichtautistischen Profis aus den Fachbereichen der Pädagogik, Psychologie oder Medizin. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass es sowohl in der Prävention als auch in der Intervention und generell im allgemeinen Kontakt mit Menschen mit Autismus darum geht, sich auf die persönlichen Besonderheiten und vorhandenen salutogenetischen Ressourcen einzulassen. Es kann niemals darum gehen, den Autismus zu bekämpfen, zu heilen oder den Menschen aus dem Autismus herauszuholen. In der Literatur beschreiben Menschen mit Autismus diese allgemein als Behinderung abgetane Besonderheit als Lebenskultur und eigenes Weltverständnis (siehe auch die Internetpräsentation www.autismus-kultur.de). Für Menschen ohne Autismus gilt es, diese Welt mit sensibler und genauer Beobachtung zu erschließen und verständlich zu machen, aber nicht, die autismusfreie Weltsicht einem Autisten aufzuzwingen. Es geht also darum herauszufinden, was im Alltag von der betroffenen Person als hilfreich und stärkend empfunden wird, Stress und Angst bewältigen zu können.
Routinen und Vorhersehbarkeit können dem Bedürfnis nach Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit im Alltag gerecht werden. Überschaubare Strukturen vermitteln Sicherheit und helfen eine verunsichernde und beängstigende Konfrontation mit Veränderungen im Alltag zu bewältigen. Rückzugsorte, die Ruhe und Sicherheit vermitteln, sind in einer als reizüberflutend erlebten Welt ein hilfreicher und notwendiger Ausgleich im Alltagsgeschehen. Ein stabil unterstützendes und haltgebendes familiäres Netzwerk stellt, wie schon weiter oben dargestellt, eine grundlegende Ressource für den Menschen mit Autismus dar, sich der Konfrontation mit der befremdlich wirkenden Welt aussetzen zu können. Es vermittelt Rückhalt, Sicherheit, Akzeptanz und Wertschätzung in jeder Lebenslage. Vor allem im häuslichen Umfeld ist eine Atmosphäre der Geborgenheit, der Ruhe und der Sicherheit wichtig. Mit dem Vertrauen in die Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit der Person mit Autismus findet eine Abkehr von der defizit- und problemzentrierten Sichtweise statt. Die Beachtung von Stärken und Interessen in Begleitung und Förderung betont die Ressourcenorientierung und stärkt das Selbstbewusstsein. Die Betrachtung biografischer Besonderheiten und Entwicklungen helfen bei der Suche nach Ursachen für auffälliges Verhalten. Die Entwicklung persönlicher Handlungsstrategien zum Spannungsabbau in schwierigen beziehungsweise überfordernden Situationen wird als unterstützende Eigenkompetenz beschrieben. Motorische Verhaltensmuster und Gedankenspiele mit der Absicht, sich selbst zu beruhigen und handlungsfähiger zu machen, sind Beispiele für solche Strategien. Menschen mit Autismus profitieren von ihren Spezialinteressen. Sie bereiten ihnen Genuss, Freude und Wohlbefinden. Auch wenn sie von Menschen ohne Autismus eher als sozial isolierend betrachtet werden, ist es eine mögliche Kontaktquelle. Sich dem ungewöhnlichen Gebiet zu nähern, kann weitere und neue Handlungsmöglichkeiten erschließen.
Lernangebote sollten sowohl möglichst in reizarmer Umgebung als auch so konkret und klar strukturiert wie nur möglich aufgebaut sein. In Form von visuell überschaubarer und ansprechender Art vermitteln sie als wichtige Unterstützungsform im alltäglichen Leben kognitive, handlungspraktische und soziale Lernsituationen. Für jede Person, die den Eindruck hat, sich in irgendeiner Art von anderen Menschen massiv zu unterscheiden, kann es von großem entlastenden Wert sein, Gleichgesinnte zu treffen. Gemeinsam spüren und erleben sie, dass sie nicht allein mit ihrer Andersartigkeit sind und können sich sozial zugehörig fühlen. Angebote zur Kontaktaufnahme mit anderen Menschen mit Autismus ist eine Chance, sich über die eigenen Denkweisen, persönlichen Besonderheiten und ähnliche Erfahrungen auszutauschen. Hier bietet vor allem das Internet eine große Plattform mit Foren für und von Menschen mit Autismus. Zu finden sind solche Foren beispielsweise unter http://aspies.de/forum/index.php und http://autismus-kultur.de . Sofern kognitiv möglich kann unter anderem in der Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten eine bewusste Reflexion über die eigenen und Autismus spezifischen Besonderheiten als ein weiterer entlastender und für die eigene Persönlichkeitsentwicklung gewinnbringender Faktor gesehen werden. Es steigert die Akzeptanz der eigenen Besonderheiten und kann zu einer bewussteren Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse beitragen.
Die Individualität und Einzigartigkeit des Menschen mit Autismus steht an erster Stelle. Somit muss bei jeder Intervention, Förderung, Diagnostik und Begleitung stets nach individuell funktionierenden Möglichkeiten und Angeboten gesucht werden, die einen Zugang zum gegenüber erschließen. Es gilt, viel Zeit zu investieren, den Menschen in seinem Autismus-Spektrum gründlich mit ehrlichem Interesse kennen zu lernen, seine Eigenart zu respektieren und eine kommunikative Basis zu schaffen.
[1] Dieser und die weiteren Absätze in diesem Kapitelabschnitt beziehen sich, sofern nicht eine weitere Quelle angegeben ist, auf diese Arbeit: vgl. Eckert/Stieler (2010)
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- Erstellt am 14.03.2012
- Geschrieben von Katja Driesener