Wenn übermotivierte Eltern ihren Kindern schaden
Zwischen Geigenstunde, Frühenglisch und Schulaufgaben: Aus Sorge um die Zukunftschancen ihrer Kinder setzen immer mehr Eltern ihren Nachwuchs einem ungeheuren Leistungsdruck aus. Davon profitiert eine ganze Förderindustrie. Doch die Kleinen leiden. Experten halten das für eine bedenkliche Fehlentwicklung.
(Von S. Schellhaaß und D. Siems)
Das Schönste war, dass wir immer ohne die Eltern rausgehen konnten
Wenn Konstantin von den vergangenen Sommerferien an der Nordsee erzählt, geht ein Strahlen über sein Gesicht. „Das Schönste war, dass wir immer ohne die Eltern rausgehen konnten“, sagt der Siebenjährige. Mit dem Bollerwagen war der Berliner Junge mit seinen Geschwistern auf Juist unterwegs, spielte mit anderen Kindern mal Pferdekutsche, mal Detektiv, kletterte auf Bäume oder picknickte. Leistungsdruck für Kinder Dass Kinder allein durch die Straßen ziehen, unbeaufsichtigt von Erwachsenen und ohne professionelle Animation, war in früheren Generationen normal – und signalisierte keineswegs Vernachlässigung. Heute sieht der Alltag der Kleinen ganz anders aus. Der Terminkalender der wohlbehüteten Sprösslinge ist voll. Zwischen Musikunterricht, Sportverein, Frühenglisch und Nachhilfestunden bleibt wenig Zeit für Spontaneität. Und unbeaufsichtigt sind sie ohnehin nie, denn überall ist das Mama-Taxi dabei. Weil Eltern für ihre Kinder die besten Startbedingungen schaffen wollen, stehen Familien heute unter einem nie dagewesenen Leistungsdruck. Schon Babys im Alter von wenigen Monaten geraten in die Mühle der Förderpädagogik. Babyschwimmen, Mozart-Beschallung, Pekip-Krabbelgruppe und die Suche nach der idealen Kita: Vor Stress wissen viele Mütter – seltener sind es die Väter – oft nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Und immer stellen sie sich die bange Frage: „Entwickelt sich mein Kind auch gut genug?“
Experten sehen in dem Versuch zur Optimierung der Kinder eine bedenkliche Fehlentwicklung. Von einer „Überkontrolle“ durch Eltern und andere Betreuungspersonen spricht der Kinderpsychologe und Buchautor Wolfgang Bergmann. „Die so geförderten Kinder werden in einen enormen Leistungsdruck gezwungen“, warnt er. Dies diene keineswegs der Entfaltung der Persönlichkeiten, vielmehr drohe eine Verarmung ihrer Fähigkeiten – und im schlimmsten Fall könnten gar seelische und gesundheitliche Schäden die Folge sein. Auch der Schweizer Kinderarzt und Wissenschaftler Remo H. Largo warnt, dass viele Eltern heute oft des Guten zu viel tun....
Bedenkliche Überforderung
Überraschenderweise sind dies nicht unbedingt die Besserverdiener. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) in einer aktuellen Studie belegt, ist es nicht primär das Einkommen der Eltern, das entscheidet, ob ein Kind eine Privatschule besucht oder nicht, sondern deren Bildungsniveau. „Es sind ganz klar die Eltern, die Abitur haben, die zunehmend ihre Kinder auf Privatschulen schicken“, sagt DIW-Expertin Katharina Spieß. Gerade Eltern aus der Mittelschicht unternehmen enorme Anstrengungen, um ihre Kinder optimal zu fördern. Diese gestiegene Bildungsorientierung ist in einer Wissensgesellschaft durchaus positiv. „Man sollte den neu erwachten Ehrgeiz vieler Eltern, ihren Kindern möglichst viel Bildung mitzugeben, nicht gering schätzen“, meint der Berliner Historiker Paul Nolte. Viele Eltern hätten erkannt, dass sie mit einer guten Bildung „mehr für die Zukunft ihrer Kinder tun, als wenn sie ihnen später eine Doppelhaushälfte vererben“. Bedenklich aber wird es, wenn die Kinder überfordert werden. Viele Familien geraten in einen regelrechten Ausnahmezustand, wenn es darum geht, ob der Sprössling die ersehnte Empfehlung für das Gymnasium bekommt. Denn diese wird von vielen als Ticket für späteren materiellen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung gesehen. Keine Empfehlung heißt dementsprechend: Absturzgefahr in die spätere Arbeitslosigkeit. Dem Druck halten nicht alle Kinder stand.
Zunehmend bedürfen schon Grundschüler therapeutischer Behandlung. Erst sind es Bauchschmerzen, später folgt die Leistungsblockade bis hin zur Depression. Bis zu zehn Prozent der 12- bis 17-Jährigen, sagt Kinderpsychologe Bergmann, haben oder hatten Depressionen. Deshalb rät er zur Gelassenheit. "Es ist wunderbar, wenn ein Kind durchschnittlich ist – und glücklich."
(Quelle: www.welt.de)
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- Erstellt am 19.09.2009
- Geschrieben von S. Schellhaaß und D. Siems