Heilpädagogische Ersteinschätzung - Ein Beispiel

Heilpädagogische Ersteinschätzung - Ein Beispiel

Dieser Artikel enthält eine exemplarische heilpädagogische Ersteinschätzung über einen 4,5 Jahre alten Jungen. Diese Ersteinschätzung habe ich im Rahmen eines Praktikums während meiner Ausbildung zur staatlich anerkannten Heilpädagogin in einem Kindergarten erstellt. Die Arbeit wurde mit 1,3 bewertet.

Anlass für die heilpädagogische Ersteinschätzung

Besonders auffallend waren Bernds (Name geändert) Sprachentwicklungsverzögerung sowie sein noch sehr schwach ausgeprägtes Rollenspielverhalten. Er befand sich hier noch auf der Stufe des Funktionsspiels. Nachahmungsleistungen waren nicht zu beobachten. Dies sah ich als Ursache dafür, dass er nicht mit anderen Kindern zusammen spielte.
Im Freispiel sowie in Beschäftigungsangeboten bemerkte ich, dass er Probleme hatte bei handlungsorientierten Tätigkeiten. Er konnte Zusammenhänge nur schwierig erkennen, konnte keine Handlung planen und gab schnell auf, wenn er nicht folgen konnte. Von der psychischen Seite her fielen mir sein geringes Selbstbewusstsein und sein unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten auf. Während meiner Beobachtungszeit war mir der Junge in seiner insgesamt verzögerten Gesamtentwicklung aufgefallen.

Symptomatik

Beobachtungen der Bezugsperson

Die Mutter ist die Bezugsperson des Jungen. Sie erzählte mir Besonderheiten, die ihr bei Bernd aufgefallen waren. Beispielsweise, dass er auch zuhause noch die Faust beim Malen benutzt und dass er nach dem Malen das Bild immer zerschneidet. Ihr fiel auf, dass Bernd ihr gegenüber Trennungsängste zeigt. Er klammert sich oft an ihr fest und kann sich nur schwer lösen. Bernds Sprachentwicklungsstörung fiel ihr erstmals auf, als er 2 Jahre alt war. Sie veranlasste daraufhin eine logopädische Behandlung.

Bernd hat zwei ältere Brüder. Zu Hause streiten sich die Jungs oft um Kleinigkeiten, wobei Bernd es nach Angaben der Mutter schwer hat, sich zu behaupten. Die älteren Geschwister ahmen sein fehlerhaftes Sprechen manchmal nach, z. B. bei Grammatikfehlern. Die Mutter weist die älteren Geschwister stets darauf hin, ganz normal mit Bernd zu sprechen.

Beobachtungen aus der Diagnostik

Spiel- und Verhaltensbeobachtung

Bernd zeigt wenig Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit in der Gruppe. Zu anderen Kindern nimmt er kaum Kontakt auf, außer zu einem Mädchen. Er fühlt sich eher zu Erwachsenen hingezogen. Seine Bedürfnisse gegenüber Erwachsenen kann er zwar angemessen durchsetzen, im Spiel kann er jedoch kaum seine Interessen durchsetzen. Er mag es, wenn man ihm Bücher über die Feuerwehr oder über Polizisten vorliest. Dabei erkennt er Gefahren und weist darauf hin. Eigeninitiative und die Fähigkeit zum Nachahmen sind bei Bernd gering ausgeprägt. Insbesondere sein Rollenspiel ist nicht altersgemäß entwickelt. Sein Konstruktionsspiel ist wenig phantasievoll und es fällt ihm schwer, etwas zu planen.

Stand der Sprachentwicklung

Bernd weist eine Reihe von sprachlichen Defiziten auf: Dyslalie, einen Dysgrammatismus, eine verbale Entwicklungsdyspraxie, einen eingeschränkten Wortschatz sowie ein eingeschränktes Sprachverständnis. Er spricht in 3-Wort-Sätzen. Trotz seiner Sprachentwicklungsverzögerung zeigt er in einigen Situationen Freude am Sprechen. Aufgrund seiner Sprachentwicklungsverzögerung bzw. Sprachentwicklungsstörung erhält er bereits logopädische Förderung. Aus einem Schreiben der Logopädin ging hervor, dass Bernd alle Konsonantenverbindungen falsch artikuliert. Sein Sprachverständnis ist nicht altersgerecht entwickelt. Er befolgt Anweisungen nicht oder nicht korrekt, gibt oberflächliche oder unpassende Antworten, versteht einfache Aufgaben erst nach mehrmaliger Wiederholungen. Sein Wortschatz entwickelt sich nur langsam. Begriffe kann er nicht differenzieren und er kann keine Oberbegriffe bilden.

Kognitive Entwicklung

Bezüglich der kognitiven Entwicklung befindet Bernd im Bereich der präoperationalen Stufe. Er kann eine Handlung nicht vorausschauend planen und hat Probleme, Reihenfolgen nachzuvollziehen. Beim Aufgabenverständnis braucht Bernd zusätzliche Erläuterungen, um eine Aufgabe auszuführen. Ein weiterer Faktor ist sein eingeschränktes Wortverständnis. Auch Bernds Mengenverständnis ist nicht altersgerecht entwickelt. Er kennt nur die Zahlen bis Drei. Zwischen groß und klein sowie schwer und leicht kann er jedoch unterscheiden. Schwierigkeiten hat er beim Zuordnen von Dingen zu Kategorien. Bernd verwechselt auch Farben. Er befindet sich in der egozentrischen Phase, der Perspektivenwechsel gelingt ihm noch nicht.

Soziale Bindung

Bernd wird mit sehr viel Liebe verwöhnt, jedoch wenig gefördert. Das Setzen von Grenzen fällt der Mutter schwer. Mir fiel in diesem Zusammenhang auf, dass Bernd zu seiner Mutter ein unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten zeigt; er klammert sich sehr an seine Mutter, will auf den Arm genommen werden und braucht dann einige Zeit, um ins Spiel zu finden. In der Hofzeit spielt er gar nicht, sondern er wartet, bis seine Mutter ihn abholt.

Feinmotorische Entwicklung

Bernds Feinmotorik ist noch nicht altersgemäß entwickelt. Stifte und Pinsel hält er oft mit der Faust. Bernd befindet sich noch in der Kritzelphase, die normalerweise nur bis zum 3. Lebensjahr dauert. Er malt nicht sehr gerne und drückt mit dem Stift beim Malen zu fest auf. Beim Auffädeln von Perlen wendet er hingegen bereits den Pinzettengriff an und arbeitet sehr sorgfältig.

Familienzusammenhang

Bernds Eltern sind verheiratet. Die Mutter ist die Haupterziehende, da der Vater beruflich und privat viel unterwegs ist. Bernd sieht seinen Vater unter der Woche nur kurz frühs und abends. Nur an den Wochenenden unternimmt der Vater gelegentlich Dinge mit Bernd. Bernd hat zwei Geschwister im Alter von 14 und 10 Jahren. Gegenüber diesen kann er sich nur schwer behaupten. Bei dem 10 Jahre alten Bruder wurde vor kurzem ADS diagnostiziert. Die Mutter ist deshalb momentan sehr besorgt; er reagiert bei Kleinigkeiten aggressiv und streitet gerne mit seinen Brüdern. Im ersten Elterngespräch wirkte die Mutter auf mich überfordert.

Entwicklung (Besonderheiten aus der Anamnese)

Chronische Nierenerkrankung

Seit der Geburt leidet Bernd unter einer angeborenen Fehlbildung: einer Schrumpfniere (Nephrozirrhose). Die Mutter macht sich oft Sorgen, dass Bernd krank wird. Sie befürchtet, dass die verbleibende gesunde Niere irgendwann nicht mehr ausreicht. Äußerlich wirkt Bernd kränklich, zerbrechlich und blass. Er sieht aus wie ein etwa 3 Jahre alter Junge.

Motorische Entwicklung

Nach Angaben der Mutter konnte Bernd erst mit etwa 12 Monaten krabbeln, mit 15 Monaten lief er ohne Hilfe. Dass er erst so spät krabbeln konnte, könnte Auswirkungen auf seine Raum-Lage-Wahrnehmung bzw. Raum-Figur-Wahrnehmung haben.

Sprachentwicklungsstörung

Mit 1 Jahr konnte Bernd einfache Worte wie "Ball", "Auto" und "Puppe" sagen. Als er 1,5 Jahre alt war, musste seine Mutter für 5 Wochen ins Krankenhaus. Seine wichtigste Bezugsperson fehlte ihm somit in dieser Zeit. Bernd wurde während dieses Krankenhausaufenthaltes seiner Mutter von seiner Großmutter betreut. Laut Aussage der Mutter sprach er nach ihrer Rückkehr fast kein einziges Wort mehr. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen Bernds Sprachentwicklungsverzögerung und der vorübergehenden Trennung von der Mutter.

Als Bernd 2 Jahre alt war, suchte seine Mutter mit ihm einen Kinderarzt auf. Diesem fiel die verzögerte Sprachentwicklung auf und er empfahl der Mutter, einen Logopäden hinzuzuziehen. Mit etwa 2,75 Jahren bekam Bernd erstmals logopädische Behandlung.

Emotionale Bindung

Aus der Anamnese geht u.a. hervor, dass Bernd sehr anlehnungsbedürftig ist. Seine Mutter vermutet, dass das zuvor erwähnte Trennungserlebnis ein Grund hierfür ist.

Therapieziel

Ich möchte Bernds Handmotorik anregen, um seine Feinmotorik zu verbessern.

Bezüglich des Rollenspiels steht Bernd, wie erwähnt, auf der Kleinkindstufe. Daher möchte ich versuchen, sein Repertoire zu erweitern, seine Phantasie anzuregen, und ihm so mehr Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen. Beispielsweise könnten in Rollenspielen einfache Handlungsabläufe eingeübt werden.

Bezüglich seiner Sprachentwicklungsstörung möchte ich ihn durch Lieder, Reime und Geschichten fördern und so seine Sprachentwicklung unterstützen.

Über die Autorin/den Autor
Diana Saft ist staatlich anerkannte Heilpädagogin und Heilerziehungspflegerin. Sie sammelte bisher Erfahrungen in einem Seniorenheim, in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen, in einem integrativen Kindergarten und in einem deutschen Kindergarten in den USA.

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