Kind mit vestibulärer und taktiler Unterempfindlichkeit - Ein Beispiel
In diesem Artikel wird zunächst das Verhalten eines verhaltensauffälligen Kindes beschrieben. Anschließend werden die typischen Merkmale der Unterfunktion des taktilen (Tastsinn) und vestibulären (Gleichgewichtssinn) Systems dargelegt, wobei Parallelen zu dem Beispielkind deutlich werden.
Betroffenes Kind
Ben* (Name geändert) ist ein fünfeinhalbjähriger Junge, der regelmäßig den Kindergarten besucht. Wenn er morgens den Raum betritt, stürmt er sofort auf die Kinder zu. Meist fällt er dabei hin, steht dann gleich wieder auf und tut so, als sei nichts passiert. Dabei kommt es gelegentlich auch zu sozialen Konflikten, wenn er z. B. mehrfach dasselbe Kind anstößt oder schubst. Der Kontakt zu den anderen Kindern gelingt ihm häufig nur überschießend.
Bei Massagen kann er sich sich nicht gut entspannen. Er lässt die Massage zwar über sich ergehen, reagiert jedoch kaum darauf und scheint nur geringfügige taktile Empfindungen zu haben. Er kann einfache gemalte Figuren auf seinem Rücken nicht erraten (z. B. Kreis, Viereck, Strich).
Eine vestibuläre Stimulation benötigt er besonders beim Morgenkreis oder beim Sitzen am Tisch während der Mahlzeiten. Er kann beim Morgenkreis nicht ruhig sitzen bleiben. Da er ständig seine Sitzposition korrigiert, kann er kaum den Morgenkreis verfolgen. Auch Ordnung zu halten fällt ihm schwer. Oft muss er daran erinnert werden, beispielsweise Malstifte, Papierschnipsel oder Bausteine aufzuräumen.
Er spielt im Raum überwiegend wilde Spiele. Ruhige Tischspiele spielt er kaum. Insgesamt zeigt er ein stürmisches Temperament. In den Draußenzeiten fällt oft auf, dass er ständig auf der Suche nach massiven Berührungsreizen oder körperlichen Grenzen ist. Häufig versteckt er sich in engen Kisten oder sucht sich sehr enge Ecken heraus. Im Garten stolpert er oft über seine eigenen Füße, was teilweise an seiner stürmischen Art liegt. Manchmal hat er zudem ungeeignete Schuhe an. Oft stößt er bei seinem wilden Spielen andere Kinder an und rennt dann einfach weiter. Im Garten zeigt er insgesamt ein scheinbar nicht zu befriedigendes Bewegungsbedürfnis.
Unterfunktion des taktilen Systems
Nachfolgend habe ich die typischen Merkmale der Unterfunktion des taktilen und vestibulären Systems nach Zimmer [1] und Kesper [2] zusammengefasst. Viele Merkmale treffen auf das oben beschriebene Beispielkind zu:
- "Bei einer Unterempfindlichkeit des taktilen Systems spricht man von einem eingeschränkten taktilen Diskriminationsvermögen." (Knauf, S. 25)
- Taktile Reize im Gehirn werden stark gehemmt und folglich können Kinder diese Reize nicht intensiv genug spüren. Sie brauchen daher intensivere Reize, da nur geringe taktile Wahrnehmungen auf der Oberfläche der Haut empfunden werden können.
- Da betroffene Kinder oft Probleme in der Feinmotorik haben, können sie beispielsweise einen Stift in der Hand nicht richtig spüren. Dies zu Schwierigkeiten beim Schreiben führen.
- Typische Merkmale sind nach Zimmer (1995, S. 161):
- niedrige soziale Hemmschwellen
- häufige Schmerzunempfindlichkeit
- Suche nach massiven Berührungsreizen
Unterempfindlichkeit des vestibulären Systems
- Kinder mit vestibulärer Unterempfindlichkeit sind ständig in Bewegung, korrigieren oft ihre Sitzposition, das heißt, eine vestibuläre Stimulation wird permanent benötigt.
- Diese Kinder zeigen oft ein stürmisches Temperament und stoßen oft unbeabsichtigt andere Kinder an. Kontakte zu den anderen Kindern gelingen daher meist nur überschießend und soziale Probleme treten häufig auf.
- Beim Schreiben zeigen betroffene Kinder oft wenig Druck-Kraftdosierung in den Händen, die Schrift ist oft ausfahrend (vgl. Kesper, Hottinger 1999, S. 59).
- Betroffene Kinder zeigen Probleme beim Erlernen der Buchstaben.
- Ordnung machen und auch halten fällt Kindern mit vestibulärer Unterempfindlichkeit schwer.
- Da diese Kinder ihre eigene Leistungsfähigkeit nicht richtig einschätzen können, kann es vermehrt zu kleinen Unfällen kommen.
- Aufrund mangelnder vestibulärer Reizverarbeitung haben betroffene Kinder zusätzlich Schwierigkeiten in ihrer Bewegungskoordination.
- Oft ist zu beobachten, dass diese Kinder sich schnell verlaufen, obwohl die Umgebung bekannt ist.
Literatur
- [1] "Handbuch der Sinneswahrnehmung" von R. Zimmer, Freiburg, 1995; "Handbuch der Psychomotorik" von R. Zimmer, Freiburg, 1999. Dieses Buch bei www.amazon.de
- [2] "Mototherapie bei Sensorischen Integrationsstörungen" von G. Kesper, C. Hottinger, München, 1999. Dieses Buch bei www.amazon.de
- [3] "Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung im Grundschulalter" von T. Knauf, P. Kormann, S. Umbach; 1. Auflage. Dieses Buch bei www.amazon.de
- Bücher über das vestibuläre System/über den Gleichgewichtssinn im Allgemeinen bei www.amazon.de
- Details
- Zuletzt bearbeitet am 15.01.2013
- Geschrieben von Diana Saft